„Dein Fokus liegt auf dem aktuellen Projekt. Das ist das Allerwichtigste in diesem Moment. Alles andere muss sich dem unterordnen. Nur noch wenige To-dos auf der Liste und dann ist es endlich fertig.“ Ist das dein Alltag? Im Projektgeschäft zählen solche Erzählungen wohl zu den typischen Lebenslügen, sagen nur die, die es nicht selbst erleben. Vielleicht ist es gar keine Lüge, sondern ein Lebenskonzept. Nach dem Projekt ist vor dem Projekt. Schlimmer noch: Auch das neue Projekt wird wieder unsere volle Aufmerksamkeit und Priorität genießen. In Wahrheit sind wir nie fertig. Daran hatten wir uns gewöhnt. Bei vielen Filmschaffenden stellt sich dieser Tage die Erkenntnis ein, dass kein Projekt zu haben, die eigentliche Katastrophe ist.

Die beispiellose Krise am Produktionsmarkt verursacht ein ungeahntes Vakuum. Für Projektbeschäftigte und eine Branche, die von Schlagzahl von Auftrag zu Auftrag lebt, ist das befremdlich. Große Unternehmen bauen Personal im großen Stil ab. Sender und Streamer beauftragen weniger Projekte, serielle Formate mit weniger Folgen, insgesamt weniger Drehtage und Umsatz. In dieser, seit Jahrzehnten unvergleichlichen Wirtschaftslage finden Tarifverhandlungen statt, über deren Stand  Verdi derzeit in verschiedenen Städten berichtet. Mit dem Rückenwind aus, von Personalmangel geprägten Jahren der pandemietrotzenden Auftragsvolumina, stehen die aktuellen Forderungen nach einer Viertage-Woche bei gleichem Lohn und Regelungen zu künstlicher Intelligenz. Durch den ähnlichen Sound anderer Tarifverhandlungen klingt dies nur auf den ersten Blick nicht verstörend.

Auf Produktionsdauer Beschäftigte sind Angestellte. Sie kümmern sich nicht um die Akquisition von Aufträgen, denen jahrelange und finanziell hochriskante Entwicklungen und Vertriebsbemühungen vorausgehen. Sie nehmen angebotene Stellen an. Im Unterschied zu anderen Branchen sind vergleichbare Tätigkeiten, wie beispielsweise bei Technik, Dekorationsbau und Assistenzstellen, deutlich höher bezahlt. Damit sind die Erwartungshaltung an hohe Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit und Leistungsbereitschaft eingepreist. Privilegien der Filmarbeit sind damit allerdings noch längst nicht vollständig aufgezählt.

Normale Angestellte erhalten zwischen 24 und maximal 30 Tagen bezahlten Urlaub. Im Umkehrschluss müssen pro Jahr also etwa 220 Arbeitstage abgeleistet werden, jedes Jahr wohlgemerkt. Die meisten Filmschaffenden profitieren von beschäftigungsfreien Projektzwischenräumen, insbesondere in der dreharmen Winterzeit, die über ALG1 von der Allgemeinheit bezahlt werden. Einen Ausgleich für dadurch verminderte Rentenbeiträge muss der Arbeitnehmende dank der Pensionskasse Rundfunk nicht fürchten. Die Erkenntnis über das Jahresarbeitszeitvolumen erhalten einige aktuell bei einer Umorientierung in andere Branchen.

Der soziale Status im Familien- und Freundeskreis, auch dem der eigenen Kinder, differiert ebenfalls deutlich. Erzählungen von der letzten Baustelle werden erst dann interessant, wenn dort ein Filmset mit bekannten Persönlichkeiten entsteht. Kaum eine andere Branche feiert sich selbst bei so vielen Gelegenheiten und über alle Hierarchiegrenzen hinweg. Der kurze Premierenmoment hallt dank Social Media länger nach als der Winterurlaub auf der Südseeinsel.

Unsere Zeit wird von den großen Themen Klima, Krieg und Zuwanderung geprägt. Dank GreenMotion, Unternehmen mit ausgeprägten, sozialen Nachhaltigkeitsbemühungen und fairen Arbeitsbedingungen, vom Sender bis zum Dienstleistungsunternehmen, profiliert man sich komfortabel ohne eigenes Engagement.

Bei der aktuellen Situation mit sinkenden Budgets, steigenden Kosten und einer unsicheren Zukunft des Filmstandorts Deutschland wirken die aktuellen Forderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dystopisch. Erneut werden Konflikte geschürt, Gräben gegraben und Dissens provoziert, anstatt gemeinsam aktiv die Zukunft partnerschaftlich zu gestalten. Der Produktionsstandort Deutschland zeichnet sich auch durch hohe Qualifikation und vertretbare Personalkosten aus. An diesem Standort hängen die Schicksale von Schauspieler*innen, Dienstleistungsunternehmen, Lieferanten, Herstellern und Mitarbeitenden in vielen unterschiedlichen Unternehmen. Eine vernünftige Einigung liegt im Interesse der deutschen Kreativwirtschaft insgesamt.

Dein Ensider:Team

(Autor: Markus Vogelbacher, Bild Ensider.net)